Geschichten zum Stammhof
(Auszüge aus der Chronik Friedrich Wiederholt, 1933)
Schon früh mußte Vater den urväterlichen Stammhof übernehmen, welcher immer ein Zufluchtsort der größeren Familie Wiederholt blieb. Vater war eine kräftige Person von 250 Pfund mit unternehmendem und leistungsfähigem Geiste. Er wurde 1814 geboren und verheiratete sich 1836 mit Clara Gerhardy aus Gieboldehausen, die 1815 geboren war. Damals gab es noch keine Eisenbahnen, und alle Wege mußten zu Fuß oder per Wagen oder zu Pferde gemacht werden. Zu unserem Hofe gehörten mit dem Zubehör wohl an die 100 `Morgen, doch brachte die Landwirtschaft nicht viel ein. Alles war nur Handbetrieb, eine schreckliche Quälerei. Deshalb setzte sich eine verrückte Frau aus Bishausen, wenn sie Vater sah, auf die Erde & tat, als wenn sie Besen band, & sang dabei: "Ein Ackermann, ein Rackermann, Gott lov`, dat ek en Handwerk kan."
Das gewöhnliche Erquickungsgetränk der damaligen Zeit war der Schnapps. Deshalb war auf jedem Hofe eine Vorrichtung angebracht, wo dieser gebrannt wurde. Später wurde der Schnaps von Hardenberg bezogen.
Umbauten
Ich erinnere mich noch, daß Vater die Brennereivorrichtung von Urvaters Zeiten abgebrochen hat. An deren Stelle errichtete er die Schweineställe aus Quadersteinen. Darüber erhob sich ein 2 stöckiges Gebäude zur Aufnahme der Früchte. Über der Küche errichtete er die neue Stube, die Kammer und den Gang.
Vaters Residenz
Unten in der hinteren Stube standen die großen, großen Himmelbetten von Vater und Mutter. Daneben war der Pannestuhl, von dem aus Vater, als er gelähmt war, 7 Jahre das ganze Wesen regierte.
Viehfütterung
In der Landwirtschaft war noch alles Handbetrieb. Selbst das Futter für das Vieh mußte in der Lade durch Menschenkraft geschnitten werden. Alles Vieh ging auf die Weide, wodurch recht viel Dünger und Länderei verloren ging. Jede Art der Tiere hatten ihren eigenen großen Anger:
Kuhanger, Pferdeanger, Schweineanger, Gänseanger. Zum Auslassen der Tiere blies der Kuhhirte sein Horn, der Schweinehirt schwang die große Glocke, der Gänsehirt pfiff seinen lauten Ton usw. Das Land wurde nur flach gepflügt; und wegen des Mangels an Dünger mußte wenigstens der 4. Teil brachliegen. Wo jetzt 30-40 Kühe Nahrung finden, konnten damals nur 10 gehalten werden.
Getreideernte
Roggen und Weizen wurden noch mit der Sichel geschnitten, in geschürzte Seile gelegt und mit dem Bindestock zugedreht. 9 dieser Bunde wurden zusammengestellt das 10. umgestülpt als Dokke darüber. Diese blieben solange im Felde stehen, bis sie knochentrocken waren.
An der Sense, mit der Hafer gemäht wurde, war eine Vorrichtung, um die spärlichen Halme aufzufangen. Die Bohnen und Erbsen schlug man mit einer kleinen Sense ab, an der ein senkrechter, kurzer Stiel angebracht war, der mit der rechten Hand geschwungen wurde, das sog. "Hieb". In der linken Hand wurde ein langer Stock geführt, der unten in einen Nagel endigte. Mit diesem wurde das abgeschlagene Getreide aufgewickelt und zur Seite gelegt, daher "Welle" genannt.
Die Kartoffeln
Die Kartoffeln ernteten wir mit der Hacke. Die Runkeln und Rüben zog Mutter in Mistbeeten, und dann wurden sie mühsam ausgepflanzt. Dasselbe geschah mit den Tabakpflanzen, die eine unendliche Arbeit verlangen.
Das Einfahren
War das Getreide trocken, so fuhr man es auf langen Erntewagen in die Scheune. Die Bunde wurden wegen der bergigen Gegend mit dicken Windebäumen festgehalten. Das Aufladen erforderte grosse Kräfte, und deshalb mußten die Forkenstiele auf die Erde gestützt werden. Die Bunde konnten in der Scheune nicht gereicht werden, sondern mußten mit der "Pollehne" (bewegliche Rolle) in die Höhe gezogen werden.
Das Seil als Schaukel
War die Scheune frei, so schlangen wir Kinder das Seil der Pollehne zweimal über den Querbalken der Scheune und hatten so die schönste Schaukel.
Hilfskräfte
Da keine einzige Maschine da war, so mußte alles was Hände hatte, mit zufassen. Jeder hatte sein besonderes Amt. Dem einen waren die Hühner, dem anderen die Gänse, dem dritten die Schweine übertragen. Auf unserem Hofe wurden täglich 3 Tagelöhner, 2 Knechte und 2 Mägde beschäftigt.
Pferde
Da von den 6 Pferden einige zu Bierfuhren benutzt wurden, so mußten noch 2 Ziehochsen eingestellt werden. Der Umgang mit den Pferden ist auch oft gefährlich. So hatten wir ein Hengstpaar, welches uns an die 30 Jahre ihre Kräfte darbot. Doch war der eine ein Beißer, der deshalb den Maulkorb tragen mußte, und der andere ein Schläger, vor dem man sich in Acht nehmen mußte. Wenn der Wagen festsaß, und die Knechte nichts anfangen konnten, so brauchte Vater nur die Pferde anzurufen, und mit seiner Riesenkraft ins Rad zu fassen. Die Pferde gaben her, was sie konnten. Eher zerrissen Schwengel und Ketten, als daß sie den Wagen stehn ließen. Besonders prangten die beiden vor dem kolossalen und schweren Bierwagen, der unter gewaltigem Gedröhn durch Nörten nach Göttingen fuhr.
Am liebsten fuhren wir jedoch mit dem treuen Lieschen, mit dem das kleinste Kind fertig wurde. Es wußte auch die Wirtschaften ganz genau und blieb stehen, bis das Bier abgeladen war. Auch beschenkte es uns mit mehreren Fohlen.
Das Dreschen
Das Getreide wurde mit dem Flegel ausgedroschen. Der 7 oder 8 taktige Schlag klang munter weithin fort. Wir Kinder mußten fleißig helfen durch Anbreiten und Wenden des Getreides; wir hatten eine große Freude, wenn wir mit unserem kleinen Flegel in die Reihe gestellt werden konnten. War das Getreide den ganzen Winter hindurch in aller Herrgottsfrühe bis zum Kaffee oder der Mehl- oder Biersuppe ausgedroschen, und das Stroh über die Seite gebanst, so gingen die Knechte und Mägde und 2 Tagelöhner an ihre Arbeit. Der Dritte hatte mit dem Reinigen des Getreides den ganzen Tag zu tun, da ihm keine einzige Maschine zur Verfügung stand, sondern er nur die lange Holzkeffe (Schippe), die Wurfschaufel, den Federfittich und das Streusieb benutzen konnte. Das Getreide wurde als kostbare Gabe hochgeschätzt und sorgsam gehütet.
Viehzucht
Bei dem Dreschen fiel für alles Vieh, besonders für die Hühner und Gänse recht viel ab. Die Schafzucht wurde sehr gepflegt; damit man sie aus der Herde erkannte, wurden alle Tiere gezeichnet. Unsere Lämmer führten in dem einen Ohr ein "C", in dem anderen ein "W".
Die Gerechtsamen
Die Reihe=Häuser hatten durch ihre Gerechtsame an den Weiden, Angern,Holzungen und jetzt an den Kali=Zinsen einen hohen Wert. Zu Nörten gehören soviel Waldungen, daß sie reichlich Holz bekommen und sich keine Kohlen zu kaufen brauchen.
Gänsekämpfe
Besonders blühte in Nörten die Gänsezucht. Für uns Kinder war es diegrößte Ehre, den stärksten Ganter zu haben. Diese wurden mit den in Schnaps getauchten Brotrinden in Aufregung versetzt und gegeneinander gelassen. Das gab oft aufregende und blutige Schlachten. Die Gänse verursachen einen großen Spektakel. In Nörten wurde früher von Northeim aus auf dem Ratskeller Gericht gehalten. Damit die Verhandlungen stattfinden konnten, ließ der Amtsrichter erst den Marktplatz durch den Gemeindediener von den Gänsen säubern. Sonst konnte man sein eigenes Wort nicht verstehen. Den Dreck auf den Straßen und Gassen durfte man nicht achten. Damit Sonntags Sauberkeit herrschte, wurde Sonnabend nachmittag der Feuerteich geöffnet. Das durch Nörten fließende Wasser benützte man zum Reinigen der Straßen.
Milchwirtschaft
Der Ertrag der Milchwirtschaft war auch gering. Ich weiß noch, daß Mutter den abgerahmten Schmand mit der Keule im Napf butterte. Als später durch verfütterung der Brauereiabfälle der Milchertrag größer wurde, traten erst das wiegende, dann das stehende Butterfaß in Tätigkeit. Im Sommer machte uns Kindern das Buttern oft große Last. Wir zogen in den Keller und oft in den Eiskeller und hatten oft halbe Tage daran zu tun. Dann riefen wir uns Nachbarskinder zur Hilfe. Daher kommt das Sprichwort: "Wenn't nich bottern will, denn bottertet nich".
War es uns endlich gelungen, dann gab es die fette Buttermilch zu trinken und ein frisch gestrichenes Butterbrot zu essen. Das aber schmeckte fein! Auch war im Sommer eine Sette abgerahmter Milch mit Brot, Zucker und Kanel überstrichen, eine kühlende Babsal. Auch war der Schmier- und Stippkäse nicht zu verachten. Ein feiner Leckerbissen bildete der Kochkäse und der durchgebrannte Handkäse. Dafür ließ man den besten Braten stehen.
Flachsbau
Auf unserem Hofe wurde auch Flachs gezogen. Wenn er reif war, wurde er ausgeruppt, in Bündel gebunden und auf der Scheune von den Knutten am Riepenbaum gereinigt. Dann wurden die Garben in die Rotten gelegt. Das waren stehende Gewässer an der Leine. Der Flachs wurde mit Brettern und Steinen beschwert, sodaß er immer unter Wasser lag. Jetzt lösten sich nach etwa 3 Wochen die äußeren Bastteile, welche Prozedur einen sehr unangenehmen Geruch verbreitete. Dann wurde der Flachs durch die Sonnenstrahlen und selbst durch die Hitze der Malzdarre knochentrocken gemacht. Auf der Scheune wurde durch Booken, Ziehen durch die Brake, die Hülse gebrochen und zerkleinert, welche dann mit Zuhilfenahme der Schwinge entfernt wurde. Diese Hülle, Schebe genannt, wurde zum Mengen des Baumörtels verwandt. Dann wurde der Flachs durch die Hecheln gezogen. Das sind auf 2 dm2 aufrecht stehende Drahtnägel. Hierdurch wird der Flachs von der Hede gereinigt. Der blanke Flachs wurde dann um den Dogen gewickelt und gesponnen. Je feiner der Faden, desto schöner. Auch die Hede wurde gesponnen und mit Wolleinschlag zu Beiderwand gewebt. Das Garn wurde zu leinenen Stiegen verwebt, ausgekocht, geschölt, gebleicht, mit einem schweren Klotze gewalkt und verarbeitet, bis es schneeweiß war. Aufgerollt bildeten dann die Stiege in den Truhen der Eltern einen willkommenen Schatz zur Aussteuer der Töchter. Auch waren in den Ortschaften Färbereien, die es zu Stoffen für Kleidungsstücke ummodelte.
Der Zuckerrübenbau
Später wurde durch die Verkoppelung alles geändert. Es trat auch die Zuckerrübenwirtschaft ein. Das Land wurde tief gepflügt. Da man auch Kunstdünger anwandte, brauchte kein Stück mehr brach liegen zu bleiben. Die erzeugten Zuckerrüben brachten Geld in die Wirtschaft, und die in dem so bearbeiteten Lande nachwachsenden Früchten waren großartig. Aber nur die Güter und größeren Betriebe ließen Aktien der Zuckerfabrik zu. So mußten sich die Nörtener an der Fabrik in Northeim beteiligen.
Der dadurch bedingte Bahnbau
Von Northeim nach Karlshafen wurde die Bahn gebaut, die bei Volpriehausen durch einen Tunnel geleitet werden mußte. Da Nörten die nächste Bahnstation war, so verdienten sich Bruder Carl, Vetter Johannes u. Heinrich Rittmeier das Geld zu der Aktienzuckerfabrik dadurch, daß sie Looren und andere Bedarfsartikel über Hardegsen nach Volpriehausen fuhren, was zwar ein schwieriges, doch einträgliches Geschäft war. Es sei noch hier nachgefügt, daß zu Vaters Zeit von der Bramburg nach Nörten die Pflastersteine gefahren wurden, und fast immer Fuhrwerke unterwegs waren.
Die ersten Maschinen
Durch die Rübenkultur trat auch in der Landwirtschaft die Maschine in Tätigkeit. Die ersten Dreschmaschinen wurden durch Wasserkraft betrieben. Ich mußte als Junge oft nach Rauschenwasser bei Mariaspring, 1 Stunde entfernt, hin und fragen, wann wir dreschen könnten. Später wurde eine in Parensen eingebaut, das nur eine halbe Stunde entfernt ist, die wir dann benutzten. Dort war auch eine Vorrichtung zum Brechen des Flachses und eine Ölmühle, wo Leinsamen, Mohn und gesammelte Bucheckern geschlagen wurden.
Vergleich mit der Hildesheimer Gegend
In der Hildesheimer Gegend, besonders im Borsumer Kirchenspiel (Kaspel) ist das Land viel ertragreicher, da man fast 1 Meter tief pflügen kann, ohne auf Steine zu geraten. Hier reihen sich deshalb auch Zuckerfabrik an Zuckerfabrik. Diese Landwirte banden ihr Getreide schon lange in Garben, was man jetzt auch in Nörten und auf dem Eichsfeld tut.
Spätere Umbauten & Veränderungen
Da die Landwirtschaft erträglicher wurde, so bauten wir den Fohlenstall in einen 2. Kuhstall um. Bruder Carl Wiederholt errichtete auf dem Stukenbühl eine Feldscheune und baute das freiwerdende Fach in der Scheune auch noch zu einem Kuhstall um. Neffe Ernst Wiederholt vertauschte ein Stück Land am Papenberge mit einem Gartengrundstück in der Twetge von Grafen Hardenberg und verlegte die Feldscheune dorthin. Auch baute er das Haus um. Das Kabinett und die Milchkammer brauchte er zur Verbreiterung der Diele und verlegte die Treppe in die Mitte des Hauses, wodurch viel Platz gewonnen wurde. Auch baute er unter der Küche noch eine Waschküche ein. In den Räumen über den Schweineställen legte er Kammern an. Das Land am Rammelsberg trat er an den Grafen ab, damit dieser am Roten Berg unmittelbar vor Nörten Ländereien zu Siedlungszwecken hergeben konnte.
Wasserverbrauch
Sämtliches Wasser, in der Gemeindebrauerei, die später vom Vater käuflich erworben war, wurde aus dem Kunstgraben bezogen. Dieser leitete das Wasser vom Mühlenbache hinter den Gärten durch zum Feuerteiche. In dem Mühlenbache war ein großes Schütt angebracht & an der Seite ein kleines. Bei Feuergefahr wurde das große heruntergelassen & das kleine ganz aufgezogen. Dann floß das Wasser durch den Kunstgraben in den Feuerteich und von diesem auf der Straße durch Nörten. Auch jeden Sonnabend Nachmittag wurde der Feuerteich geöffnet, sodaß auf beiden Seiten der Straße durch Nörten sich Wasser ergoß. Dann konnten die Bewohner mit Wurfschaufeln und Besen die Straße bald reinigen.Vor dem Braugarten war inmitten des Weges ein eichener Kasten angebracht, über den man ging. In einer dicken Bohle nach dem Graben hin waren verschiedene Löcher angebracht, etwa 3 cm groß, durch die das Wasser aus dem Kunstgraben in den Kasten floß. Für die Brauzwecke ist fließendes Wasser angebrachter als Brunnenwasser, weil es weniger Salpeter enthält. Durch unterirdische eichene Rohre wurde es in die Brauerei geleitet und verwertet. Auch floß fortwährend auf dem Brauhofe ein Pfosten Die Abwässer und das, was nicht verbraucht war, wurde durch den Kanal In der Braugasse unter der Straße durch in die Kirchgasse bis zum Pfarrgarten abgeleitet, und dann zum Stiftsgarten geführt, wo es zum Teil zur Bewässerung gebraucht werden konnte. Um den Stiftsgarten leitete ein Graben das Wasser schließlich wieder in das Mühlenwasser, auf der Seite des Bahndammes nach Nörten zu.
Bei der neuen Brauerei wurde ein tiefer Brunnen gegraben, durch den das Wasser mit Pumpen gehoben werden mußte, denn dadurch, dass der Mühlenbach durch Nörten fließt, war das Wasser für die neue Brauerei zu sehr verunreinigt.
Die Gerechtigkeit über den Mühlenbach & die beiden Mühlen stand dem Grafen von Hardenberg zu, der auch einmal im Jahre durch seine Leute den Graben aufbringen und reinigen ließ und mit seinem Gespann das Aufgebrachte fortschaffen ließ.